Kurzgeschichte: „Keiner kommt hier lebend raus“
„Wir kommen hier nicht lebend raus.“
„Wir wär’s mit ein bisschen Optimismus.“
„Wir kommen hier nicht lebend raus.“
„Diese Einstellung ist so was von beschissen.“
„Ne, sie ist ehrlich.“
„Was heißt das? Du gibst auf?“
„Ich gebe nicht auf. Aber wir haben keine Chance.“
„Es gibt immer eine Chance.“
„Alter, jetzt komm mir nicht mit Facebook-Sprüchen.“
„Leck mich. Ich geb jedenfalls nicht auf.“
„Ach ja, du Held? Dann sag mir doch, was wir tun sollen.“
„Ich weiß nicht—„
„Ha! Siehst du—„
„Ich muss nachdenken!“
„Es gibt nichts nachzudenken. Wir sind gefickt. In den Arsch. Aber so richtig.“
„Wallah, Alter, ich weiß nicht, wie wir jemals Freunde sein konnten.“
„Was soll das jetzt heißen?“
„Deine beschissene Negativität. Wie konnte ich die fünfzehn Jahre lang ertragen.“
„Ich bin nicht negativ—„
„Wir kommen hier nicht lebend raus, wir kommen hier nicht lebend raus. Wenn das nicht negativ ist—„
„Ich bin einfach nur realistisch. Du machst dir was vor.“
„Und du machst mich so wütend, Alter.“
„Weil ich die Wahrheit sage?“
„Okay. Was ist dein Vorschlag?“
„Ich hab keinen! Weil’s keinen gibt. Davon red ich doch die ganze Zeit.“
„Also willst du deine Familie nicht wiedersehen?“
„Es geht nicht drum, was ich will—„
„Du willst sie im Stich lassen.“
„Was? Wen?“
„Maria und Timon. Du willst deine Frau und deinen Sohn im Stich lassen!“
„Ich lass sie nicht im Stich!“
„Natürlich. Weil du aufgibst.“
„Ich geb nich auf, du Arschloch! Und ich lass niemandem im Stich!“
„Doch, tust du. Du bist ne feige Sau. Rum heulen, mehr hast du nicht drauf. Hattest du noch nie.“
„Das nimmst du zurück.“
„Tu ich nicht— Au! Ey, bist du bescheuert?!“
„ICH BIN NICHT FEIGE!“
„Jetzt komm mal wieder runter… Mann, ich blute. Ich glaub, du hast mir’n Zahn ausgeschlagen—„
„ICH BIN NICHT FEIGE!“
„Okay, okay. Du bist nicht feige.“
„Und ich lasse niemanden im Stich! Nimm das zurück!“
„Schön. Du lässt niemandem im Stich. Können wir uns jetzt beruhigen und drüber nachdenken, wie wir hier rauskommen?“
„Wir kommen hier nicht raus.“
„Jetzt fängst du schon wieder an.“
„Fick dich.“
„Fick dich selber. Und wenn du mich noch mal schlägst, mach dich dich kalt.“
„Pfff. Ausgerechnet du. Du hattest noch nie Pump im Arm.“
„Ach ja. Willst du’s ausprobieren?“
„Nein. Komm schon, Malek. Ich werd mich nicht mit dir schlagen—“
„Du hast mich schon geschlagen.“
„Das war im Affekt. Tut mir leid.“
„Ich scheiß auf dein Tut-mir-leid.“
„Wieso bist du jetzt so aggro—?“
„Ach, jetzt hast du die Hosen voll, ja? Du hast gesagt, wir kommen hier nicht lebend raus. Also können wir uns auch die Fresse polieren.“
„Jetzt beruhig—AU!“
„Wehr dich! Los! Du eierloser Wichser! Ibn-El-Kalb!“
„Ah, fuck—!“
„Wehr dich!“
„Ugh— Hör auf, du Penner!“
„Was denn? Ich denk, ich hab’s nicht drauf, hm?“
„Shit, Mann, bitte— Au!“
„Wenn du dich nicht wehrst, mach ich solange weiter, bis du als blutiger Klumpen in der Ecke liegst.“
„Du hast den Verstand verlor— ugh—!“
„Wehr dich endlich, du feiges Stück Scheiße!“
„Hör auf, bitte… Warte! Warte mal…! Ich glaub, sie sind durch die Tür—„
„Lenk nicht ab!“
„Doch, wirklich! Hör doch ma— agh!“
…
„Scheiße, Mann. So fest wollte ich nicht… Jo-Jo? Alles okay? Komm schon, Alter. Sag was… Jetzt mach hier keine Show. Bitte, sag was. Sag was, Jo-Jo!“
„Guck an, die Ratten fangen an sich gegenseitig zu killen.“
„Vitaly—!„
„Hallo, Malek. Du meine Güte. Das hätt ich dir gar nicht zugetraut. Jemanden kalt machen. Mit den bloßen Händen. Bist ja’n richtig evil motherfucker.“
„Vitaly, steck die Knarre weg, ja? Können wir nicht noch mal in Ruhe über alles reden—?“
„Ne du. Zu spät.“
„Ich hab Familie!“
„Hatte Jo-Jo auch. Trotzdem hast du ihn getötet.“
„Ich hab ihn nicht… ich… ich wollte das nicht… wir…“
„Oh, Tränen. Wie rührend. Ehrlich, das berührt mein Herz. Was war los, Malek? Wolltet ihr euch gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben?“
„Nein. Jo-Jo… Er wollte einfach aufgeben—„
„Ja. Weil er realistisch war. Weil er wusste, dass ich euch kalt mache. Oder hast du ernsthaft geglaubt, ihr kommt hier lebend raus? Niemand bescheißt den alten Vitaly und reitet in den Sonnenuntergang.“
„Ich mach’s wieder gut, Vitaly. Ich versprech’s.“
„Du langweilst mich, Malek.“
„Ich—„
BAM!
„Woah. Genau zwischen die Augen. Du bist voll der Sniper, Vitaly.“
„Keine Kunst aus der Entfernung.“
„Aber so wie sein Gehirn von der Wand tropft, das sieht aus wie Kunst. Ich mach mal’n Foto.“
„Du hast echt einen an der Klatsche, Juri.“
„Poste ich auf Instagram—„
„Tust du nicht!“
„Mach dich locker. War’n Witz.“
„Ne, Juri, war’s nicht. Ich kenn dich doch.“
„Ich poste es nicht, okay? Was machen wir mit den Leichen?“
„Nichts. Sollen die Ratten sie fressen. Haben die Penner verdient. Apropos Fressen. Abmarsch. Ich hab Kohldampf.“
„Burger?“
„Ne, Pizza.“
„Immer Pizza.“
„Hättest du die dumme Sau kalt gemacht, hättest du entscheiden können. Hast du aber nicht. Also Pizza bei Mohammed.“
„Meinetwegen. Gibts da auch Salat?“
„Salat? Bist du schwul?“
„Leck mich.“
„Wo? An deinem ranzigen Arschloch?“
„Du bist ekelhaft, Vitaly. Du verdirbst mir den Appetit.“
„Scheiß dich nicht ein. Na komm, auf geht’s.“
…
„Alter… uhh… mein Schädel… was… was ist passiert? Ich war bewusstlos, oder? Hast mich voll ausgeknockt… Malek…? Ma—“
…
Ah, fuck… Malek…“
…
„Shit, Mann, es tut mir leid… Es tut mir so leid… Du hattest Recht. Ich bin ne feige Sau. Deswegen… deswegen hab ich Vitaly auch verraten, was wir getan haben. Ich mein, er wär doch eh dahinter gekommen. Es war von Anfang an ne Scheiß-Idee, Malek. Wir hätten das nicht tun dürfen. Und ich dachte… ich dachte, wenn ich’s ihm sage, könnt ich unsere Ärsche noch mal aus der Schlinge ziehen. Ich mein, er hat sein Geld ja wieder, warum sollte er dann noch— Ich konnt doch nicht ahnen, dass der irre Dreckskerl—! Scheiße, Malek… Was hab ich getan? Was hab ich getan?!“
…
„Ich… ich geh dann jetzt… So wie ich das sehe, glaubt Vitaly, dass ich tot bin. Sonst hätt er mir doch auch ne Kugel in den Schädel gejagt… Ich nehm Maria und Timon und setz mich ab. Vielleicht nach Mallorca. Da wohnt Nic, ne alte Freundin. Von der hab ich dir mal erzählt, du weißt schon, dieses Junkie-Mädel. Aber die ist jetzt clean. Ich denk, da können wir erstmal unterkommen. Gibt schlechtere Orte. Und… ich werd mich natürlich um Jasmin und die Kinder kümmern. Ich schick ihnen Geld, sobald ich wieder’n regelmäßiges Einkommen hab, das versprech ich dir, okay?“
…
„Es tut mir leid, Malek. Es tut mir so beschissen leid. Mach’s gut, mein Freund.“
…
„Ach ja und… danke. Danke, Mann. Ohne dich wär ich hier nicht lebend rausgekommen.“